Begriffe übersetzen


Ein verbreiteter Irrtum ist, dass geläufige Begriffe automatisch auch selbsterklärend wären. Die hier gesammelten Beiträge versuchen das Gegenteil zu zeigen: Es geht um Begriffe, die symbolisch (und damit auch ideologisch) so stark aufgeladen sind, dass das Risiko oder auch die Chance von Funkenflug entsteht. Ich möchte gerne die einschlägigen, quasi-elektrischen Anziehungskräfte hinterfragen und solche Kommunikationsbeiträge in einen neuen, systemtheoretisch unterfütterten Kontext stellen … in der Hoffnung, einen signifikanten, durchaus aber auch spielerisch gemeinten Beitrag zu leisten zur begrifflichen Entspannung in unentspannten Zeiten.

Machen TV-Serien süchtig? Man kann die Frage nicht beantworten, ohne mit Theodor W. Adornos «Fernsehen als Ideologie» anzufangen: In seinem 1954 unter dem Titel «How to Look at Television» erschienenen Aufsatz geht er scharf ins Gericht mit den industriell gefertigten Figurenschablonen, die das Fernsehen auf sein Publikum loslässt, um es in Sorglosigkeit zu wiegen und so den Werbebotschaften hilflos auszuliefern.

Bis heute hält sich in vielen Kreisen diese kulturkritische Auffassung. Den Kulturpessimisten sei vorab gesagt: Es gibt keinen wissenschaftlichen Beweis dafür, dass Fernsehserien süchtig machen – oder zumindest süchtiger als andere massenmediale Unterhaltungsangebote. Jede Zeit hat ihre ausgewählten Buhmedien, die sie für den Niedergang der Moral, der Kultur und überhaupt des Abendlandes verantwortlich macht: Im 19. Jahrhundert galt das Lesen von Romanen als schädlich für junge Mädchen. Später waren es die (seriellen!) Comics, die die Jugend verdarben, heute sind es Computerspiele. Mit dem Fernsehen hielt die Wildnis in den Wohnzimmern Einzug, mit einer Flut von Bildern und Tönen, mit Mord und Totschlag – und eben mit den suggestiven Geschichten in Fortsetzungen, die aus mündigen Bürgern willenlose «Couch Potatoes» machten.

George Gerbner versuchte in den 1960ern die angeblich schädliche Wirkung des Fernsehens durch Zahlen zu erhärten. Seine «Gewaltprofile», die er anhand der Abendprogramme erstellte und mit Zuschauerdaten und individuell erhobenen Publikumsbefindlichkeiten verglich, ergaben ein erschreckendes Bild – aber nicht von abgestumpften und gewaltbereiten Fernsehkonsumenten, sondern von ängstlichen und misstrauischen Bürgern, die dazu neigen, die Welt von Serienkrimis mit der eigenen sozialen Realität zu verwechseln.

Zweifel an der Zuverlässigkeit der Gerbnerschen Erhebung wurden von kulturwissenschaftlicher Seite laut: Horace Newcomb, Autor des vielbeachteten Buchs «TV – The Most Popular Art», behauptete, dass Gewalt in Serien genauso wie im Märchen, in der Literatur oder im Kino kontextabhängig sei und bestimmte erzählerische Funktionen erfülle. Mit anderen Worten: So wenig, wie sich die epischen Geschichten der «Ilias» oder Charles Dickens’ «Oliver Twist» hinsichtlich der darin enthaltenen Gewaltszenen über denselben Kamm scheren lassen, so müssten auch Gewaltakte in neuzeitlichen Detektivgeschichten mit Rücksicht auf das jeweilige Genre und die entsprechenden Vorkenntnisse der Zuschauenden beurteilt werden.

Die 1970er Jahre markierten in Europa eine Wende von der kulturkritischen Diffamierung populärer Medieninhalte hin zu einer optimistischeren, manchmal geradezu naiv-euphorischen Beurteilung. Diese Cultural-Studies-Schule behandelte nicht das, was Serien mit den Zuschauern anstellen, sondern umgekehrt das, was vor allem die Zuschauerinnen mit den Serien anstellen: in ihrer Phantasie, allein im stillen Kämmerlein, gemeinsam mit Freundinnen und in Fangruppen, aber auch global vernetzt in den Weiten des Internets. Sie verfassen Liebesbekundungen aller Art für die fiktionalen Serienhelden, sie tauschen Hintergrundwissen zu einzelnen Serien aus, aber sie schreiben auch Geschichten im Stil der gezeigten Serien («Fanfiction»). Der Umgang mit Serien wurde als etwas Kreatives interpretiert.

Des weiteren fanden Forscher 1982 bei vergleichenden Analysen der Serie «Dallas» in Israel, Japan und in den USA heraus, dass die von den Zuschauern mitgebrachten kulturellen Deutungsmuster massgeblich beteiligt sind an der Interpretation von Serieninhalten: Während israelische Kibbuzbewohner «Dallas» als unpolitisches Familiendrama mit beschränktem Realitätsgehalt verstanden, wurde dieselbe Serie von russischen Einwanderern als typischer Ausdruck für US-amerikanischen Kapitalismus und Lifestyle beurteilt. Arabische Männer konnten sich mit der texanischen Grossfamilie in der Serie identifizieren und deuteten etwa die Tatsache, dass sich die alkoholkranke Sue Ellen vom fiesen Ölbaron J. R. trennen wollte, als Absicht der verlorenen Tochter, zu ihrem Vater zurückzukehren. Japaner, denen dieselben Episoden gezeigt wurden, hatten grösste Mühe, den verwickelten Handlungsfäden zu folgen, weshalb sie die Serie als «langweilig» abtaten.

Bis heute wird von Vertretern der Cultural Studies der Angebotscharakter der Serien als etwas Positives dargestellt. Wie im Supermarkt liessen sich einzelne Bestandteile der Handlung oder Figuren herauspicken und für eigene Phantasien benutzen. Dank diesem «Baukastensystem», aber auch dank der von Adorno kritisierten «Schablonenhaftigkeit», animierten Serien nicht nur zum Weiterschauen, sondern auch dazu, eigene Lesarten zu produzieren.

Solch ein Angebotscharakter ist aber grundsätzlich jeder Fiktion eigen, die ja immer Lesende, Zuschauende und Zuhörende zum eigenen Imaginieren verführen will. Was also ist dann das Besondere, das Unverwechselbare an Fernsehserien?

Die Antwort erschliesst sich über zwei noch immer unterbelichtete Bereiche der Serienforschung: die Auseinandersetzung mit der wirtschaftlichen Bedeutung und die Analyse serieller Erzählstrukturen. Roger Hagedorn hat zu beiden Punkten 1995 eine anregende «Archäologie der Serie» vorgelegt, aus der die Marketingstrategien der global operierenden Medienindustrie klar hervorgehen: Es geht seit der Erfindung des Buchdrucks darum, die Aufmerksamkeit der Lesenden (und später der Zuschauer) in einem hart umkämpften Markt auf das eigene Angebot zu lenken. Da die Aufmerksamkeit der «Endabnehmer» am zuverlässigsten mit starken Gefühlen geweckt wird, erzählen periodische Druckerzeugnisse wie etwa Charles Dickens’ Romane, aber eben auch Zeitungen und Fernsehen Geschichten häppchenweise in Fortsetzungen. Die Neugier auf den Ausgang des Abenteuers sorgt quasi automatisch für einen treuen Kundenstamm. Allerdings hat das Seriengeschäft seine Tücken, weil es in extremem Mass auf Zielgruppen ausgerichtet ist: Was Ältere interessiert, weckt noch lange nicht die Aufmerksamkeit der Jüngeren. Und was Frauen in den noch immer auf ein weibliches Zielpublikum zugeschnittenen Soap-Operas und Telenovelas suchen, ist für viele Männer nach wie vor ein Rätsel.

Mit der Frage nach dem Zielpublikum ist die Frage nach der Erzählstruktur von Serien untrennbar verknüpft. Es gibt zwei grundsätzliche Möglichkeiten: Im einen Fall werden gemäss Umberto Eco zyklische Schlaufen produziert, Episode für Episode, wobei jede Episode am selben Punkt anfängt und dasselbe Erzählschema bis zum absehbaren Ende durchläuft. Im anderen Fall wird das Ende in die Zukunft verschoben, und während die Geschichte in absehbaren Variationen ihren Lauf nimmt, sorgen stets neue Figurenkonstellationen und Komplikationen dafür, dass mehr Fragen offenbleiben, als es Antworten gibt.

Der Erzählforscher Tudor Oltean legt das analytische Augenmerk auf die Leerstellen zwischen den Episoden. Der wesentliche Unterschied zwischen den beiden Serienformen bestehe darin, dass einmal die handelnden Figuren «weggestellt» werden, während sie im anderen Fall auch ohne unser Dabeisein und Wissen weiterleben, lieben und Intrigen spinnen. Genau diese Autonomie der Serienfiguren sei es, die uns dazu verleite, auch am anderen Tag, in einer Woche oder in einem Monat neugierig einzuschalten, um die unterbrochene Geschichte weiterzuverfolgen.

Viele neuere Fernsehserien, die mittlerweile dem Dunstkreis des Anrüchigen entkommen sind und auch von Intellektuellen als «Autorenfernsehen» akzeptiert werden, setzen auf Mischformen zwischen zyklischen und weitergeführten Erzählungen. Damit zielen sie auf zwei Zuschauertypen: nämlich ein Publikum, das sich nur zu einem gelegentlichen Rendez-vous mit der Serie verpflichten will, und ein anderes Publikum, das sich bereitwillig auf alle Gelegenheiten des Wieder- und Weitersehens einstellt. Das scheint das Geheimnis der Kultserien zu sein. «American Quality Television» (AQT) oder «Must-See Television» nennt man sie im Jargon der Wissenschaft. Dazu gehören altehrwürdige Science-Fiction-Serien wie «Star Trek», Arztserien («Emergency Room», «Grey’s Anatomy»), aber auch Serien, die sich an gebildete, jüngere Berufsfrauen wenden («Ally McBeal» oder «Sex and the City»).

Die Attraktivität von Serien hängt aber zuletzt immer auch von der Attraktivität der darin auftretenden Figuren ab. Wenn uns die Helden nicht interessieren, dann ist es uns auch egal, welche Abenteuer sie bestehen, welche Beziehungen sie pflegen und warum. Wenn wir uns aber so weit auf die Figuren der Serie einlassen (wollen), dass sie zu guten Bekannten werden, dann sind wir in das entsprechende Beziehungsnetz bereits eingebunden.

Gemäss dem Sozialpsychologen Peter Vorderer funktionieren Serien als beliebig erweiterbare «Beziehungskisten», über die wir mit anderen Fernsehzuschauern in Beziehung treten können. Das heisst, wir diskutieren mit Arbeitskollegen, ob Jack Bauer in der Agentenserie «24» zur Elektrofolter greifen durfte und was diese Serie mit dem Krieg im Irak zu tun hat. Oder wir erlauben es unseren Kindern, «Superman» zu schauen, weil sie sonst bei Gesprächen auf dem Pausenhof nicht mithalten können. Die Ethnologin Mary Ellen Brown hat dazu ermittelt, dass Frauen, deren beste Freundinnen wegziehen und bisher gemeinsam geschaute Serien nicht weiter empfangen können, ihre Serienpräferenzen ohne weiteres anpassen und auf andere – aber wiederum geteilte und damit auch mitteilbare – Serien umschwenken.


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